Traditionelle Medizinsysteme aus Asien wie TCM oder Ayurveda erfreuen sich großer Beliebtheit. Doch auch in Europa gibt es seit seit über 2000 Jahren ganzheitliche Medizinsysteme mit langer Tradition und großer Beliebtheit in der Volksmedizin und Erfahrungsmedizin. Die Traditionell Europäische Medizin (TEM) als eines dieser Systeme wurde daher von der UNESCO in Österreich bei einigen Therapieformen sogar mit dem Titel Weltkulturerbe geadelt. In Österreich wird die Therapie von manchen als eine Art „Ayurveda der Alpen“ vermarktet. Und die Therapie ist sogar im allgemeinen Sprachgebrauch präsent, ohne dass wir uns dessen bewusst sind: die Begriffe Phlegmatiker, Choleriker, Melancholiker stammen aus dem Medizinsystem TEM. Was steckt hinter der Therapie und den Begriffen, was sind ihre Möglichkeiten? Welche Rolle spielt die Therapie für Heilpraktiker und Patienten? Das habe ich einen Experten zu TEM gefragt. Der Heilpraktiker Uwe Sieber aus dem bayrischen Miesbach ist auf diese Therapie spezialisiert und hält Vorträge auf Veranstaltungen des Fachverband Deutscher Heilpraktiker zum Thema TEM. Ihn habe ich zur TEM interviewt.
Christian Becker: TEM ist eine uralte Heilmethode, die in ihrer Bedeutung aber vor ca. 100 Jahren von der konventionellen Medizin verdrängt wurde, bevor sie in den letzten Jahren von Heilpraktikern wieder entdeckt und belebt wurde. Wie ist es Ihrer Meinung nach zu dieser Verdrängung gekommen, wie zur Wiederbelebung und welche Bedeutung hat TEM heute in deutschsprachigen Ländern?
Uwe Sieber: Richtig ist, dass die Grundannahmen der TEM uralt sind – und weltweite Gültigkeit besitzen. So arbeiten, um nur einige zu nennen, die Traditionell Chinesische Medizin (TCM), die indische Medizin (Ayurveda) und indianische Medizinmodelle mit denselben Prinzipien wie die TEM. Die Bedeutung der Naturkräfte und deren Einwirken auf den Menschen wird überall ähnlich gesehen – lediglich die Bezeichnungen variieren je nach kulturellem Umfeld.
Bis weit ins 19. Jahrhundert war die Humoralpathologie (Säftelehre), wie die TEM früher bezeichnet wurde, herrschendes Medizinmodell und hatte zum Beispiel in dem königlich-preussischen Leibarzt Dr. Christian Hufeland einen herausragenden Vetreter. Dieses hochkomplexe Natur-, Menschen- und Medizinmodell wurde jedoch durch die zunehmende Technisierung von Umwelt und Medizin in den Hintergrund gedrängt. Einfachere Bedingungszusammenhänge und Kausalketten ersetzten zunehmend die fordernde systemisch-vernetzte Schau der Humoralmedizin. Die moderne Medizin, die sich vermehrt an wissenschaftlichen Methoden orientiert (ohne selbst Wissenschaft zu sein), hat damit auch deren grundlegende Methodik der Kausalität für sich adaptiert. Die damit verbundene Verkürzung des theoretischen Ansatzes hat letztlich zu einer Medizin geführt, die eben – nur leicht überspitzt – Schmerzzustände mit Schmerzmitteln behandelt und Bluthochdruck mit Blutdrucksenkern.
Den reparativ-operativen Sektor ausklammernd, ist die Krise der modernen Medizin, in welche diese sich durch die unzulässigen Verkürzungen und Vereinfachungen selbst manövriert hat, ja offenkundig und zeigt sich nun exemplarisch am Umgang mit anderen Medizinmodellen und deren Heilmitteln. In dieser methodischen Auseinandersetzung gewinnt das komplexe Modell der TEM zusehends wieder an Bedeutung. Durch die größere Nähe zur natürlichen Umgebungswirklichkeit und die deutlich größere Vielschichtigkeit ermöglicht sie differenziertere Ergebnisse und Vorgehensmöglichkeiten als die gegenwärtige moderne Medizin.
Für diese Renaissance der TEM ist in erster Linie der Berufsstand der Heilpraktiker verantwortlich. Zum Einen haben viele Heilpraktiker diesem Modell immer vertraut und mit seiner Hilfe behandelt, zum Anderen wird es oft aktiv in der Ausbildung zum Heilpraktiker gelehrt, so z.B. in der Münchener Berufsfachschule für Naturheilkunde „Josef-Angerer“. Auch in anderen Ländern des deutschsprachigen Auslands nimmt die TEM immer größeren Raum ein. Sowohl in Österreich als auch in der Schweiz werden fundierte – zum Teil mehrjährige – Ausbildungen in TEM angeboten und zahlreich genutzt.
Christian Becker: Wenn ein Patient zum ersten Mal zu Ihnen kommt und noch wenig Erfahrung mit TEM hat, wird er Sie nach der Charakteristik von TEM fragen. Wie erklären Sie dem Patienten in 5 Minuten das Wesen der TEM?
Uwe Sieber: Ein ganzes Medizinsystem in fünf Minuten?
Okay, dann also sehr komprimiert: Mit Hilfe der Traditionell Europäischen Medizin (TEM) werden die Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien des Makrokosmos Natur zur Beurteilung des Mikrokosmos Mensch und seiner aktuellen individuellen Situation herangezogen. Durch diese deduktive Herangehensweise entspricht das daraus folgende therapeutische Vorgehen den allgemeinen gültigen Prinzipien des Medizinsystems TEM genauso, wie es den gegenwärtigen Beschwerden des individuellen Einzelfalles gerecht wird.
Um ein möglichst genaues Modellbild der Natur zu erhalten wurde deren Wirken seit jeher in elementaren Bestandteilen zusammengefasst. So entstand bereits in vorhippokratischer Zeit die Elementenlehre mit den vier Grundelementen Feuer, Wasser, Erde, Luft. Diesen Elementen sind Grundqualitäten zugeordnet, die auf energetischer Ebene stufenweise von warm bis kalt und auf der strukturellen Ebene von feucht bis trocken reichen. Damit ergeben sich folgende Grundbegrifflichkeiten:
Feuer (warm – trocken), Wasser (feucht – kalt), Erde (trocken – kalt), Luft (warm – feucht). Alle Vorgänge in der Natur, jedes Phänomen in der natürlichen Umwelt kann mit Hilfe dieser energetisch-strukturellen Betrachtungsweise betrachtet und vergleichbar eingeordnet werden.
Um den Mikrokosmos Mensch entsprechend beurteilen zu können werden diese Grundbegriffe der Elementen- und Qualitätenlehre in den Prinzipien der so genannten Cardinalsäfte subsumiert.
Für das Feuerprinzip steht hier die warm-trockene Cholera, für das Element Wasser das feucht-kalte Phlegma, für die Erde die trocken-kalte Melancholera und für die Luft schließlich der Cardinalsaft Sanguis mit seiner warm-feuchten Qualität. Aus diesen modellhaften Cardinalsäften ergeben sich zum Einen die verschiedenartigen Temperamente des Menschen – Choleriker, Phlegmatiker, Melancholiker, Sanguiniker. Zum Anderen entsprechen diesen Prinzipien als Repräsentanten im konkret-körperlichen Geschehen die so genannten Sekundärsäfte, nämlich die aktive („gelbe“) Galle, der Schleim, die Schlacken = verbrauchte („schwarze“) Galle sowie das Blut.
Die verschiedenen Temperamente als Grobeinteilung des Mikrokosmos Mensch haben prägenden Einfluss auf die funktionellen Abläufe im jeweiligen Individuum. Bereits aus dieser Kategorisierung lassen sich wichtige Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen Menschen gewinnen. Neben den Aussagen über die energetisch-strukturelle Grundsituation bestimmen die unterschiedlichen Temperamente schließlich auch über die Art der Reizaufnahme (Sensibilität) und der Reizantwort (Irritabilität), welche für die Funktionalität im jeweiligen Organismus von großer Wichtigkeit sind. Über die weitere Unterscheidung in verschiedene Konstitutionstypen – die in aller Regel über die Augendiagnose erfolgt – lassen sich diese Grunderkenntnisse noch weiter konkretisieren.
Der jeweilige zum Cardinalsaft gehörige Sekundärsaft wiederum gibt bereits einen Hinweis auf welche Organsysteme und -gruppen der Heilpraktiker im Einzelfall besonders achten sollte – gemäß obiger Reihenfolge nämlich auf den Verdauungsbereich, das Schleimhaut- und Lymphsystem, das Bindegewebe und das Blut- und Kreislaufsystem.
Auf Grundlage dieser TEM-basierten Betrachtung des einzelnen Patienten und seines speziellen Krankheitsbildes folgt letztendlich auch ein Theapieansatz, der – weil den Vorgaben der TEM entsprechend ausgewählt – auch für den vorliegenden individuellen Einzelfall erfolgversprechend ist.
Christian Becker: Könnten Sie anhand eines typischen Fallberichtes schildern, wie die TEM in einen konkreten Patientenkontakt einfließt?
Uwe Sieber: Im Kontakt mit einem Patienten gibt es schlichtweg keinen einzigen Moment, in welchem die Grundsätze der TEM nicht zur Geltung kämen.
Vielleicht lassen Sie mich einen typischen Patientenkontakt schildern:
Von den ersten Augenblicken an versuche ich mit allen Sinnen Informationen zu sammeln, die im Hinblick auf Temperament und Konstitution bedeutsam sind.
Steht der Patient dynamisch auf oder ist der Bewegungsablauf gehemmt? Ist die Körperhaltung gerade und das Gangbild symmetrisch oder gibt es Einschränkungen? Ist der Händedruck kraftvoll oder eher schwächlich?
Ist die Haut warm und gut durchblutet oder eher kalt? Hat das Gewebe eine guten Grundtonus oder ist es mehr pastös-verquollen? Sind Haut und Unterhaut elastisch-federnd oder eher trocken und reaktionsarm? Sind Stockungen oder Stauungen im Gewebe erkennbar? Die Pulsqualität des Patienten: Ist dieser schnell oder langsam – kräftig oder schwächlich – oberflächlich oder tief?
Ist der Lidspalt weit oder eher verengt? Ist die Mimik lebhaft oder eingeschränkt? Ist die Zunge rötlich und gut durchblutet? Ist sie welk oder gequollen? Sind Beläge erkennbar? Ist ein Mundgeruch verspürbar? Schildert der Patient seine Beschwerden lebhaft und detailliert oder antwortet er eher einsilbig?
Die Anamnese liefert weitere Anhaltspunkte:
Gibt es gravierendere Vorerkrankungen? Wenn ja, welche, wann und mit welchem Verlauf, bzw. welcher Art von Behandlung? Gibt es Vor-Operationen? Wie steht es mit Implantaten, Zahnfüllungen, Piercings, Tättowierungen? Wie sieht es mit familiären Vorbelastungen aus?
Ebenfalls von bedeutendem Einfluss sind der Ablauf der Grundfunktionen, nämlich Appetit und Verdauung, Trinkmenge und Wasserlassen, Schlafverhalten, Hautatmung und für die weiblichen Patientinnen der Zyklusablauf.
Die Augendiagnose schließlich kann über die Bestimmung der Konstitution und als Funktionsdiagnose weitere Erkenntnisse über den Patienten liefern.
Als Ergebnis von Inspektion, Palpation, Anamnese und Augendiagnose können das Temperament des Patienten und seine Konstitution ermittelt werden. Diese bestimmen seine individuelle Reaktion auf bestimmte Krankheitszustände.
Nehmen wir als Beispiel einen vertebragenen, also durch Fehlfunktion der Wirbelsäule bedingten Kopfschmerz. Unter diesem leiden zwei Patienten – beide Mitte 50 – der eine mit cholerischem Temperament und carbo-nitrogenoider Konstitution, der andere ein Phlegmatiker mit plethorischer Konstitution.
Beim ersten Patienten haben die vorherrschenden Qualitäten Wärme und Trockenheit zu vermehrter Bildung und Ablagerung von Schärfen und Schlacken geführt welche mit erhöhter Spastik im umliegenden Gewebe verbunden ist. Zur Behandlung kommen deshalb vor allem befeuchtende Maßnahmen, z.B. Auflagen oder Wickel in Betracht. Diese sollten höchstens lauwarm sein um die Gewebespastik nicht zu forcieren. Alle Maßnahmen, welche den Tonus der Fasern vermindern und einen vermehrten Säfte- und Lymphfluss in die betroffene Region ermöglichen sind bei diesem Patienten hilfreich.
Ganz anders bei Patient zwei: Gewebestockungen und -stauungen aufgrund seiner kalten und feuchten Grundregulierung haben bei diesem zu den wirbelbedingten Kopfschmerzen geführt. Hier sind warme, energetisierende und faserkräftigende Maßnahmen – wie etwa Rotlicht, Heißluft, trockenes Schröpfen oder kräftige Massagen indiziert um seine Art Kopfschmerz angemessen zu behandeln.
Alle therapeutischen Methoden und Medikationen müssen den genannten qualitativen Grundrichtungen folgen um im Einzelfall erfolgreich sein zu können. Daher ist für die Behandlung nach den Grundsätzen der TEM vor allem relevant, dass die gewählte Therapieform – egal ob es sich um manuelle Verfahren, Reflexzonenbehandlungen oder medikamentöse Verordnungen handelt – die Vorgaben aus der Elementen- und Qualitätenlehre erfüllt.
Christian Becker: Welche Chancen bietet die TEM Heilpraktikern und ihren Patienten in der Zukunft?
Uwe Sieber: Das lässt sich für beide Gruppen gemeinsam beantworten, denn von den Vorteilen profitieren sowohl Heilpraktiker als auch Patient.
Die TEM bietet Heilpraktiker und Patient – seit jeher – die Sicherheit, sich eines übergeordneten Modells zu bedienen, das seit Jahrtausenden besteht und die Basis der Erfahrungsmedizin darstellt. Die Empirie, die Summe dieser gemachten Erfahrungen ist so vielfältig und abgesichert, dass der Heilpraktiker die TEM mit großem Vertrauen auf deren Richtigkeit im individuellen Behandlungsfall anwenden kann. Im Laufe der Zeit gab es zudem unzählige große Geister der TEM auf deren Lehren und Erkenntnisse der Behandler beruhigt zurückgreifen kann.
Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der TEM ist die Möglichkeit einer prognostischen Aussage im individuellen Krankheitsfall. Die Einbeziehung der natürlichen Gesetzmäßigkeiten erlaubt es, die weitere Entwicklung im individuellen Krankheitsgeschehen abzuschätzen. Für Therapeut wie Patient eine große Hilfe!
Ein weiterer Vorteil der TEM liegt darin, dass sie auf keine Methoden beschränkt ist. Jedes Therapieverfahren, das sich in das Modell der Elementen- und Qualitätenlehre eingliedern lässt, kann auch im Sinne der TEM genutzt werden. Damit ist die TEM nicht auf klassische Verfahren wie Ab- und Ausleitungsverfahren, Akupunktur, Reflexzonenbehandlungen etc. eingegrenzt. Auch moderne Therapieformen, wie etwa Softlaserbehandlungen als ein Typus energetischer Verfahren lassen sich problemlos in das Modell einbringen.
Durch all dies ist gewährleistet, dass auch in der Zukunft die TEM für Behandler wie Patient ein ebenso lebendiges wie erfolgversprechendes Medizinmodell bleibt!
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